Beinahe hätte ich meine Kamera im Hotel vergessen. Nach wenigen hundert Metern musste ich noch einmal umkehren, um sie zu holen. Claudia murmelte nur kaum verständlich „Ich geh schon mal langsam weiter“ vor sich hin, ohne sich zu mir umzudrehen. Dann war ich das erste Mal seit zwei Tagen wieder länger als fünf Minuten allein. Ich ließ mir Zeit, wahrscheinlich war es auch Claudia ganz recht so. Auf der schmalen Straße kein Mensch. Als ich wieder aus dem Hotel kam, fing es immer stärker an zu regnen, warum hatte ich überhaupt noch den Fotoapparat geholt? Von den Klippen gab es schließlich auch Postkarten. Vielleicht, weil ich mich an den Urlaub erinnerte, in dem ich Claudia kennengelernt hatte, an die Fotos, die ich damals gemacht hatte, trotz des Dauerregens. Heute weiß ich, dass alles anders gekommen wäre, wenn ich die Kamera nicht dabei gehabt hätte.
„Ich weiß, was du gerade denkst“, sagte Claudia, als ich sie eine Viertelstunde später wieder einholte. Ich antwortete nicht, und so gingen wir den ersten Kilometer schweigend. Dann blieb sie plötzlich stehen, ich merkte, wie ich mich anspannte in Erwartung einer neuen, alten, anstrengenden Diskussion, einer Diskussion über unsere Beziehung, über Missverständnisse, gegenseitige Verletzungen, und dann eine Diskussion über diese Diskussion. Es sind ja immer neue Verschachtelungen zu entdecken, wenn man sich nur tief genug darin versteigt. Doch zu meiner Überraschung sagte sie nichts, sondern hielt mir in der hohlen Hand zwei Zigaretten entgegen. Ich stellte mich wortlos vor den böigen Wind und holte mit klammen Fingern das Feuerzeug aus der Jackentasche.
Während wir rauchten, schwiegen wir weiter, nebeneinander stehend, den Rücken gegen den feinen Regen gewandt. Um uns herum Irland, grüne Hügel, zergliedert von wenigen schmalen Straßen und vielen brusthohen Steinmauern. Dazu die schwarzgrauen Wolken, die seit unserer Ankunft zuverlässig den Himmel bedeckten.
„Was denkst du, was ich denke?“ fragte ich schließlich zurück, nachdem ich meine Zigarettenkippe in eine Pfütze geworfen hatte. Claudia hob sie wieder auf und wickelte sie zusammen mit ihrer eigenen, die sie vorsichtig in einer anderen Pfütze gelöscht hatte, in ein Taschentuch, das sie in ihre Jackentasche stopfte. „Du denkst an die Woche auf dem Campingplatz damals“, antwortete sie. Ich wandte mich ab und ging weiter, den schlammigen Pfad den nächsten Hügel hinauf. Und wieder ein Kilometer Schweigen und Wandern.
Aber sie hatte ja recht, ich dachte wirklich an den Sommer vor fünf Jahren, als wir uns kennengelernt hatten. Wir waren beide an derselben Uni, sie studierte Physik, ich ging zu meinen Sprachkursen. Wir haben uns nicht im Hörsaal kennengelernt und auch nicht in der Mensa, wo sich angeblich die meisten aller Akademikerehepaare kennenlernen. Das behauptete damals ein Kommilitone von mir, der für irgendein Medieninstitut jedenfalls eine solche Umfrage durchgeführt hatte. Irgendwann später hat er auch Claudia davon erzählt, und dann haben sie und ich uns immer, wenn irgendjemand in unserem Alter heiratete, gegenseitig bestätigt, dass wir das ja nicht nötig haben, wir haben uns ja schließlich nicht in der Mensa kennengelernt.
Es war auf einem Campingplatz an der Mosel gewesen, ich war mit ein paar Freunden da, die genau wie ich kein Geld hatten für einen größeren Urlaub und außerdem keine Lust, während der Semesterferien zu arbeiten. Claudia war mit dem Fahrrad und einem winzigen Zelt allein unterwegs, „auf einem Selbstfindungstrip“, wie sie uns erklärt hatte, und dabei war sie sich so furchtbar esoterisch vorgekommen, weil sie sich doch eigentlich für eine Naturwissenschaftlerin hielt. Es regnete ununterbrochen, wir waren die einzigen, die verrückt genug waren, auf dem Campingplatz auszuharren, eine ganze nasse Woche lang in meinem uralten löchrigen Hauszelt. Claudia kam jeden Morgen zum Frühstück und blieb bis zum Abend. Wir hatten eine Gitarre dabei, und es stellte sich schnell heraus, dass die Physikerin um Einiges besser darauf spielen und dazu singen konnte als wir Geisteswissenschaftler. Als sie unser Erstaunen sah, sagte sie nur: „Auch das ist Physik, das sind schließlich erzwungene Schwingungen, Schallwellen und Resonanzen.“
Wieder war ein Kilometer vorbei, wir standen auf irgendeinem grünen Hügel in Irland und konnten schon den Leuchtturm an den Klippen sehen. Ich sagte zu Claudia: „Weißt du noch, wie du versucht hast, mir diese physikalische Theorie von den zwei Körpern zu erklären?“ Aber sie antwortete nicht und ging weiter auf den Leuchtturm zu.
Während ich ihr auf dem immer schmaler werdenden Pfad folgte, versuchte ich mich an unsere erste Verabredung zur Mensa zu erinnern, bei der sie mir lange Vorträge über Physik gehalten hatte. Damals hatte ich ratlos in meinem Essen gestochert, denn ich konnte nicht verstehen, warum Claudia die ganze Zeit nur über Physik redete, ich hatte mich vorher sehr gefreut, sie wiederzusehen. Außerdem war ich noch nie gut in Physik gewesen.
Als sie die Ratlosigkeit in meinem Gesicht gesehen hatte, versuchte sie wenigstens eine anschauliche Erklärung des Problems, über das sie gerade dozierte: „Also, stell‘ dir die zwei Körper doch einfach als zwei Billardkugeln vor. Die eine liegt ruhig und friedlich da, während die andere auf sie zugerollt kommt und sie ungefähr in der Mitte trifft. Was wird danach passieren? Ganz einfach, die beiden tauschen ihre Bewegungszustände, das heisst, die, die sich vorher bewegt hat, bleibt jetzt liegen, und die andere rollt mit derselben Geschwindigkeit los, mit der die erste angeschossen kam. Zwei Körper verhalten sich aus physikalischer Sicht ungefähr so wie zwei Billardkugeln, die voneinander abprallen.“
Das konnte ich natürlich verstehen, Billard hatte ich schon oft gespielt. Aber ob Claudias Vortrag einen tieferen Sinn hatte, und worin dieser bestand, das war mir ein Rätsel geblieben. Erst Monate später waren wir ein Paar geworden. In der Zwischenzeit waren wir bei den Klippen angekommen, die über hundert Meter tief ins Meer abfielen. Wir machten uns schweigend auf den Weg an der Abbruchkante entlang und erreichten irgendwann die Stelle, an der ich auf die Idee kam, das Foto zu machen. Dort war ein Teil der Klippen abgerutscht und hatte ein großes und ziemlich steiles Geröllfeld aus Steinsplittern und Kieseln hinterlassen. Der Pfad teilte sich, ich ging am oberen Rand des Geröllfeldes weiter, während Claudia sich auf einen halsbrecherischen Abstieg zum unteren Ende begab, wobei sie sich von Zeit zu Zeit mit den Händen am Abhang festhalten musste, weil immer wieder Steine unter ihren Füßen wegbrachen, in kleinen Lawinen bergab rutschten und am Ende des Abhangs in der Tiefe verschwanden. Eine Bildfolge schoss mir durch den Kopf: Claudia, wie sie den Halt verliert und in einer Lawine aus Kieseln und Geröll bergabrutscht, wie sie versucht, wieder Halt zu finden, es aber nicht schafft, wie es sie immer weiter nach unten reißt, wie sie schließlich am Ende des Geröllfeldes über den Rand der Klippen hinausschiesst und in die Tiefe fällt.
Als Claudia tatsächlich am Rand der Klippe angekommen war, ohne ernsthaft gestürzt zu sein, rief sie mir zu, sie hätte einen tollen Blick nach unten, der Strand läge mindestens noch fünfzig Meter tief unter ihr. Ich schrie zurück, sie solle vorsichtig sein und überhaupt mal einen Moment stillstehen, damit ich ein Foto von ihr machen könne. Es war anstrengend, den Wind zu übertönen.
Claudia als kleiner roter Punkt am Rand der Klippen unter mir, auf der Linie zwischen Geröll und Meer, das schien mir ein Foto wert zu sein. Auf der Suche nach dem passenden Bildausschnitt ging ich nur zwei Schritte nach unten, auf Claudia zu, in das Geröllfeld hinein, und wollte mich noch festhalten, als die Steine unter mir wegbrachen, aber da war es schon zu spät.
Ich rutsche hilflos wie ein strampelnder Käfer in einer Lawine von Kieseln das Geröllfeld hinab auf Claudia und den Abgrund hinter ihr zu. Ich versuche, mich auf den Bauch zu werfen, um Arme und Beine auszustrecken und mich in den Abhang festkrallen zu können, aber es gelingt mir nicht. Ich überschlage mich, wieder sehe ich die Bildfolge vor mir, mit mir selbst statt Claudia in der Hauptrolle. Ich schaffe es irgendwie, im Rutschen nach unten zu sehen, zum Rand der Klippen, der viel zu schnell näher kommt. Claudia schaut mir entgegen, und ich weiß, woran sie denkt: an unsere zwei Körper, an den Zusammenstoß und daran, dass wir beide ungefähr gleich schwer sind. Plötzlich geht sie einen Schritt zur Seite, zwei wieder zurück, sie weicht mir aus, nein, sie versucht, die Stelle zu finden, an der ich über die Kante der Klippen hinausschießen werde, sie hockt sich hin, den Rücken zum Abgrund, und streckt die Arme nach vorne. Ich will noch rufen, nein, geh weg, ich will rufen, nein! Zu spät, ich kann nicht mehr rufen, ich stoße mit ihr zusammen, meine angezogenen Knie treffen ihre vorgestreckten Arme, als sie sich mir entgegenwirft. Ich bleibe liegen, Claudia fällt hintenüber, verschwindet im Abgrund, schreit nicht, fällt, fünfzig Meter bis zum Strand, zum Meer, ich kann sie nicht sehen, höre nicht, wie sie aufschlägt, liege auf dem Rücken, Steine kullern über mich hinweg. Dann bewegt sich nichts mehr, nur der böige Wind und der Regen, der mir aufs Gesicht fällt.
Irgendwann später, es wird schon dunkel, mache ich mich mühsam wieder auf, stolpere zittrig zurück zum Leuchtturm und merke, dass ich meinen Fotoapparat verloren habe.
(2Tall, veröffentlicht in der Anthologie "Erfindungen und Geborgenheiten", 2003)