Der See mit dem Loch im Boden, Mt. Greylock, USA
Der See mit dem Loch im Boden

Das letzte Foto überraschte ihn. Er hatte Portraits von ihr gemacht, an einem sonnigen Sonntag am Rheinufer, sie hatten beide gelacht und gelacht, zwei Filme voll mit Bildern von Sarah. Am Ende des zweiten Films war noch ein zusätzliches Bild, wie immer, wenn man die Rolle am Anfang ganz knapp einspannt. Mit diesem Bild hatte sie nicht mehr gerechnet, er hatte so getan, als wenn er den Film schon zurückspulte, um sie und ihr Lachen ganz spontan und ungekünstelt zu erwischen. Er war sich sicher gewesen, dass ihm dass auch gelungen war, er hatte gedacht, wahrscheinlich ist es das beste Foto von allen, die er jemals von ihr gemacht hatte. Aber als es schließlich entwickelt war, sah er eine technisch perfekte Aufnahme, auf der Sarah ein erbarmungswürdig trauriges Gesicht hatte.

Das beunruhigte ihn und ließ ihn nachdenken: Es musste noch mehr von diesen traurigen Bildern von Sarah gegeben haben in dem halben Jahr, in dem sie zusammen waren. Nur hatte er diese nicht bemerkt, hatte sich immer wieder bereitwillig von ihrem Lachen blenden lassen. Und die andere Seite von Sarah, die vielleicht immer nur für den Bruchteil einer Sekunde sichtbar gewesen war, hatte er mit seiner trägen Wahrnehmung gar nicht erfassen können.

Er starrte auf das Foto, und seine Erinnerungen zeigten ihm Situationen, die seine Unruhe abwechselnd besänftigten und bestätigten, und immer wieder Sarahs lachendes Gesicht. Aber das kann doch gar nicht sein, dachte er sich, ein halbes Jahr nur Lachen und ungetrübtes Glück, kann das wirklich so gewesen sein? Und dann fragte er sich, wie ihr Gesicht wohl in den Momenten ausgesehen hatte, als er es nicht hatte sehen können, immer wenn sie ihren Kopf abgewandt hatte, oder immer dann, wenn er mit etwas anderem beschäftigt gewesen war.

Fast hätte er sich trotzdem wieder beruhigt und seine Gedanken als Spinnereien abgetan, mit denen er sich nur selbst das Leben schwer machte. Er steckte das Foto wieder zwischen die anderen und alle zusammen zurück in die Papiertasche. Dann schaltete er den Fernseher ein, aber nach wenigen Minuten merkte er, dass der Versuch, sich abzulenken, sinnlos war. Immer wieder sah er das letzte Foto vor seinen Augen.

Er versuchte, alles zusammenzutragen, was er über Sarah und ihre Vergangenheit wusste, über ihre Familie, ihre Freunde, über ihr Studium. Doch er kam nicht weit, sie hatten nie lange miteinander darüber geredet, sie hatten versucht, jeden Augenblick miteinander zu genießen, und er war froh darüber gewesen, dass es bei ihnen nicht so kompliziert war wie bei allen anderen. Er wusste nur, dass sie ursprünglich aus der Nähe von Münster stammte und dass sie für die Stelle als Assistenzärztin hierher gezogen war.

Er musste sofort mit Sarah reden, warum sollte er lange herumrätseln, sie würden sich gegenseitig ihre Geschichten erzählen, das würde vielleicht langwierig und anstrengend werden, aber danach würde es wieder einfach sein zwischen ihnen, vielleicht sogar besser als vorher. Er schaute auf die Uhr, kurz nach Mitternacht. Er steckte die Fotos in die Tasche und verließ die Wohnung, mit dem Fahrrad waren es knapp zehn Minuten zu ihr. Auch wenn sie beide morgen arbeiten mussten, seine Unruhe trieb ihn an und ließ ihm ein Gespräch mit Sarah wichtiger erscheinen als alles andere.

Die Fenster ihrer Wohnung waren dunkel, und auf sein Klingeln hin tat sich nichts. Er drückte noch einmal auf den Knopf, sie hatte einen leichten Schlaf, offensichtlich war sie also nicht da. Wo konnte sie um diese Uhrzeit sein? Um zehn Uhr war sie nach Hause gegangen, angeblich, weil sie sehr müde war und schlafen gehen wollte. Hatte sie ihn angelogen, oder war ihr etwas zugestoßen? Oder traf sie sich etwa mit jemand anderem? Er rief ihre Handynummer an, aber es meldete sich nur die Mailbox. Er wartete die Ansage nicht ab, sondern legte sofort wieder auf. Er ging auf dem Bürgersteig auf und ab und überlegte, was er jetzt tun sollte. Ihm fiel nichts ein. Er stand da und schaute abwechselnd auf ihre Fenster und auf die Straße.

Nach einer halben Stunde nahm er sein Fahrrad und schob es langsam die Straße entlang. Es würde sicher eine einfache Erklärung geben, sie würde ihm morgen sagen, wo sie gewesen war. Aber wie sollte er sie danach fragen? Er wollte schließlich nicht, dass es so aussah, als ob er ihr hinterherspionierte. Und eigentlich hatte er ja über etwas ganz anderes mit ihr sprechen wollen. An der Kreuzung wandte er sich noch einmal um, gerade als er auf sein Rad steigen wollte, sah zu ihrer Wohnung zurück, da stand Sarah plötzlich an der Haustür und schloss gerade auf. Sie hatte ihn nicht bemerkt. Er lief zurück und sah das Licht hinter den Fenstern ihrer Wohnung im ersten Stock aufleuchten. Ohne zu wissen warum, stellte er sich auf die andere Straßenseite und wartete. Er war sich jetzt nicht mehr so sicher, ob er wirklich noch heute mit ihr reden wollte. Vielleicht sollte er noch einmal in Ruhe nachdenken, was er Sarah überhaupt sagen wollte, dachte er.

Einen Moment später ging das Licht in ihrer Wohnung aus, gleichzeitig wurde es jedoch im Treppenhaus wieder hell. Wohin will sie denn jetzt schon wieder? dachte er. Erst sagt sie, sie sei müde und wolle zum Schlafen nach Hause gehen, und dann ist sie die halbe Nacht unterwegs. Vielleicht musste er sich weniger über Sarahs Traurigkeit, sondern mehr über seine eigene Unwissenheit Sorgen machen.

Er legte sein Fahrrad hinter ein parkendes Auto und hockte sich daneben, sodass er durch die Scheiben die Eingangstür im Blick hatte. Er kam sich dabei zwar lächerlich vor, aber nur einen kurzen Moment, bis sein Ärger und seine Unruhe sein schlechtes Gewissen beiseite geschoben hatten. Sarah verließ das Haus, stieg auf ihr Fahrrad und bog in die Straße Richtung Innenstadt ein. Er wartete einen Moment, dann folgte er ihr vorsichtig.

In den folgenden Stunden überlegte er wieder und wieder, ob er nicht umkehren sollte, und ob es wirklich klug gewesen war, diese absurde Verfolgung aufzunehmen. Er dachte an das Foto, das ihm zufällig ein anderes Gesicht von Sarah gezeigt hatte, und an den Zufall, der ihn genau zu dem Zeitpunkt an ihre Wohnung geführt hatte, als sie zu ihrer nächtlichen Reise aufgebrochen war. Sie hatte ihm nichts davon gesagt, er fühlte sich hintergangen, betrogen, auch wenn er natürlich nicht wusste, was Ziel und Zweck der Fahrt waren. Vielleicht ein Notfall in der Familie? Es ging ihn ja auch nichts an, oder? Vielleicht führte sie ein Doppelleben, das sie vor ihm geheim halten musste. Er kam zu keinem Ergebnis, aber er war sich sicher, dass ihm Sarahs Beobachtung mehr verraten würden als jedes Gespräch, das er mit ihr führen, und jedes Foto, das er von ihr machen könnte. Also folgte er Sarah immer weiter, er konnte nicht aufhören, er wollte wissen, was sie vor ihm verbarg.

Zuerst ging es mit dem Fahrrad zum Bahnhof, wo es um diese Zeit noch erstaunlich voll war. Jedenfalls waren noch so viele Leute unterwegs, dass sie ihn nicht bemerkte. Sie erwischten gerade noch den Zug Richtung Münster, die Fahrräder nahmen sie mit.

Er musste bei jedem Halt vorsichtig schauen, ob sie nicht ausstieg. Kurz nach Köln kam der Schaffner zur Fahrkartenkontrolle vorbei und fragte ihn, bis wohin er fahren wollte, da überlegte er einen Moment zu lange, sodass der Schaffner ihn schon stirnrunzelnd ansah. Er hatte glücklicherweise noch genug Geld für eine Fahrkarte zur Endstation des Zuges, Münster Hauptbahnhof. Sie verließen den Zug tatsächlich erst dort.

Danach wurde es schwierig, ihr zu folgen, ohne dass sie ihn bemerkte, denn die Straßen waren leer. Doch Sarah fuhr zielstrebig und ohne sich umzuschauen, und er hielt seinen Abstand so groß wie möglich. Das Licht an seinem Fahrrad ließ er ausgeschaltet, selbst dann noch, als sie die Stadt verlassen hatten und die Wege unbeleuchtet waren. Vor ihm gab es nur ihr rotes Rücklicht, und mit Hilfe des Mondscheins schaffte er es mühsam, auf der Straße zu bleiben. Auf den Waldwegen, die sie dann fuhren, wurde es noch schwieriger für ihn, er fuhr durch Schlaglöcher und streifte Äste und Büsche am Wegrand. Obwohl er zweimal absteigen musste und einmal fast schon dachte, er hätte sie verloren, ließ er sich nicht abschütteln.

Dann allerdings, nach beinahe einer Stunde Fahrt, war plötzlich ihr rotes Rücklicht endgültig verschwunden. Er hoffte, dass sie abgestiegen war. Mittlerweile war es schon wieder etwas heller geworden, auf seiner Uhr war es kurz vor fünf. Er legte sein Fahrrad am Rand des Weges hin und schlich langsam weiter. Schemenhaft konnte er fünfzig Meter vor sich Sarah erkennen, wie sie in einen kleinen Pfad durch das dichte Unterholz einbog. Wenige Augenblicke später war er bei ihrem Fahrrad. Er blieb kurz stehen und legte seine Hand auf den Sattel, der noch warm war. Dann folgte er Sarah weiter in den Wald.

Auf dem Pfad war es einfach, sie nicht zu verlieren, Äste knackten unter ihren Füßen, und es gab keine Abzweigungen. Er selbst machte leise Schritte auf dem festgetrampelten Sand des Pfades und schaffte es zu seinem eigenen Erstaunen, beinahe jeden Zweig und jedes Geräusch zu vermeiden. Seine Augen hatten sich gut an die Dunkelheit gewöhnt und auch im Wald machte sich bereits die einsetzende Morgendämmerung bemerkbar.

Zehn Minuten später öffnete sich der Wald zu einer Lichtung, in deren Mitte ein kleiner See lag, der einen Durchmesser von vielleicht zwanzig Metern hatte. Sarah war direkt am Ufer stehen geblieben. Er hockte sich hinter einen Baum und sah, wie sie sich im Dämmerlicht auszog, bis sie schließlich völlig nackt dastand. Er hätte sie gerne berührt, umarmt, geküsst, aber er konnte es nicht; er wünschte sich, sie hätte ihn gebeten mitzukommen, sie hätte ihn eingeweiht in ihre Geheimnisse, aber er war nur ihr Beobachter, ihr Verfolger, ein Voyeur. Er konnte den Blick nicht abwenden. Sie sprang in den See und schwamm. Sie tauchte zwei-, dreimal unter, ließ sich für kurze Zeit auf dem Rücken treiben, stieg dann wieder aus dem See, streifte sich das Wasser mit den Händen vom Körper, aus den langen schwarzen Haaren und zog sich wieder an. Dann ging sie weiter in den Wald hinein. Und er folgte ihr noch immer.

Nach fünf Minuten hörte der Wald auf und sie erreichten eine Siedlung mit Einfamilienhäusern. Sarah lief zielstrebig auf eines der Häuser zu, schloss die Vordertür auf und ging hinein. Das muss das Haus ihrer Eltern sein, dachte er, sie hätte doch sonst keinen Schlüssel. Außerdem reist sie ohne Gepäck, also doch ein Notfall? Er wartete eine halbe Stunde lang, seine Uhr zeigte schon fast sechs, nichts passierte.

Dann nahm er einen leichten Brandgeruch wahr, und fast gleichzeitig sah er Rauch aus einem der Fenster aufsteigen. Sarah rannte aus dem Haus zurück in den Wald, nur ein paar Meter an dem Gebüsch vorbei, hinter dem er sich versteckt hatte. Er zögerte, was sollte er tun? Mit seinem Handy die Feuerwehr rufen? Aber wo befand er sich überhaupt? Und was sollte er denen sagen? Bei den Nachbarn klingeln? Nein, er lief hinter Sarah her, den Pfad entlang, an dem See im Wald vorbei, er schaute einen Moment lang zur Seite, in das Wasser hinein, übersah eine Wurzel, die quer über dem Pfad lag, stolperte, stürzte zu Boden, schlug mit dem Kopf auf und fiel weiter, sah einen schwarzen Punkt auf sich zukommen und fiel, fiel in eine bodenlose Tiefe. Sah Wolken an sich vorbeifliegen. Schaute nach unten, auch unter ihm nur Wolken. Schaute genauer hin und sah unter den Wolken einen Wald, in dem Wald einen See, Sarahs kleinen See im Wald. Sah Sarah daneben stehen, nackt, und Sarahs trauriges Gesicht. Fiel in den See, schlug hart auf das Wasser auf. Versank in die schwarze Tiefe. Sah unter sich die Schwärze wieder heller werden. Sank durch das Wasser auf das Loch im Boden des Sees zu, ein helles Loch, wo das Wasser wieder aufhörte, er fiel aus dem Wasser hinaus in die helle Luft und erwachte.

Als erstes betastete er seinen Kopf, er fand Blut an seiner Schläfe. Dann hockte er sich an das Ufer des Sees und wusch es wieder ab. Das Wasser war trüb, bis auf den Grund des Sees konnte er nicht sehen. Danach machte er sich auf den Weg zu seinem Fahrrad, nur rannte er nicht mehr. Er fragte sich, ob Sarah sein Fahrrad wohl neben dem Weg hatte liegen sehen, und ob sie es wohl erkannt hatte. Er fuhr zurück nach Münster und nahm den nächstmöglichen Zug. Die Leute um ihn herum kamen ihm unwirklich vor, sie fuhren zur Arbeit. Sarah traf er nicht.

Für den Abend hatten sie sich im Biergarten verabredet. Als er ankam, saß sie schon da und lächelte ihm entgegen. Er sah die dunklen Schatten unter ihren Augen, die sie mit Schminke zu überdecken versucht hatte. „So ein Zufall, dass ich dich hier treffe“, sagte er und versuchte, ebenfalls zu lächeln. „Ja, lange nicht gesehen“, antwortete sie und blinzelte ihm zu.

(2Tall, veröffentlicht in der Anthologie "Erfindungen und Geborgenheiten", 2003)

 alle rechte vorbehalten. © jahre wandern ∙ impressum ∙ datenschutz